Nur auf Basis neuer Beweise können freigesprochene Verdächtige nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht noch einmal für dieselbe Tat angeklagt werden.
Die Ende 2021 in Kraft getretene Reform der Strafprozessordnung sei verfassungswidrig und nichtig, entschied das höchste deutsche Gericht am Dienstag in Karlsruhe.Geklagt hatte ein Mann, der 1981 eine Schülerin inNiedersachsen umgebracht haben soll und auf Basis neuer Beweise erneut angeklagt wurde.
Die heftig umstrittene Reform ermöglichte es, Tatverdächtigen auf Basis neuer Erkenntnisse noch einmal den Prozess zu machen. Der Bundestag hatte die Änderung der Strafprozessordnung noch zu Zeiten der GroKo ausUnion und SPD beschlossen.
Vorher war es nur in wenigen Fällen möglich, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren zuungunsten des Angeklagten noch einmal aufzurollen - etwa im Falle eines Geständnisses.
Seit der Gesetzesreform ging das auch, wenn «neue Tatsachen oder Beweismittel» auftauchen. Die Regelung ist auf schwerste Verbrechen wie Mord, Völkermord und Kriegsverbrechen beschränkt, die nicht verjähren. Beim Ausfertigen des Gesetzes hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier angeregt, dieses wegen verfassungsrechtlicher Zweifel «einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen».
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) plädierte nach dem Regierungswechsel im Bund ebenso dafür, es noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Sonst stünde jeder Freispruch unter Vorbehalt.
Im konkreten Fall wurde der klagende Mann verdächtigt, 1981 die 17-jährige Frederike aus Hambühren bei Celle vergewaltigt und erstochen zu haben - das konnte ihm damals nicht nachgewiesen werden.1983 wurde er rechtskräftig freigesprochen - nach einer neuen DNA-Untersuchung könnte er aber der Täter sein. Ihm sollte der Prozess gemacht werden, doch er legte Verfassungsbeschwerde ein. Die Karlsruher Richterinnen und Richter stoppten den Prozess am Landgericht Verden. Der Mann kam bis auf weiteres auf freien Fuß. Das Verfassungsgericht verlängerte im Sommer die Außervollzugsetzung des Haftbefehls und kassierte Auflagen. Unter anderem hatte der Mann sich zweimal wöchentlich bei der Staatsanwaltschaft melden müssen und durfte seinen Wohnort nicht ohne Erlaubnis verlassen.
Bei der mündlichenVerhandlung im Mai hatte die Schwester des Opfersüber ihren Anwalt emotionale Worte an den Zweiten Senat gerichtet: «Ihr Tod verjährt nicht in unserer Familiengeschichte.» Jahrelang hatte ihr Vater für eine Reform der Strafprozessordnung gekämpft. Unter anderem stellte er eine Petition dafür ins Internet, die rund 180.000 Menschen unterschrieben. Der Kampf sei mit dem Tod ihres Vaters nicht vorbei, ließ Frederikes Schwester vortragen. Zeit schaffe keinen Frieden, der Schmerz werde nicht weniger. Die Familie hoffe auf Ruhe.