Zweifacher Mord und68-facher Mordversuch: Es war eines der schlimmsten antisemitischen Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte: Der rechtsterroristische Anschlag inHalle am 09. Oktober 2019 sorgte weltweit für Entsetzen.
Nun hat das Oberlandesgericht Naumburg im Magdeburger Gerichtssaal das Urteil gesprochen: Der Angeklagte Stephan Balliet ist zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Zudem stellte das Oberlandesgericht Naumburg am Montag, 21. Dezember 2020die besondere Schwere der Schuld fest. Nach Überzeugung des Gerichts sei er gefährlich für die Menschheit. Die Gesellschaft müsse vor dem 28-Jährigen geschützt werden, deswegen habe das Gericht neben lebenslanger Haft auch die Sicherungsverwahrung angeordnet, so Richterin Ursula Mertens. Das heißt der Angeklagte darf nach 15 Jahren Haft nicht vorzeitig auf Bewährung entlassen werden. Sollte seine Haftstrafe später enden, so bleibt er weiter in Sicherungsverwahrung, weil er eine Bedrohung für die Allgemeinheit darstellt.
Bundesanwaltschaft und Nebenklage hatten in dem Verfahren die Höchststrafe für den Angeklagten gefordert. Dem folgteRichterin Ursula Mertens. Es sei ein «feiger Anschlag» gewesen, sagte sie bei der fast drei Stunden andauernden Urteilsverkündung. Der Angeklagte habe an vielen Stellen seine Taten und Motive relativiert und keine Reue gezeigt.Viele Momente in dem Prozess seien unerträglich gewesen, sagte die Richterin. Dabei versagte Mertens die Stimme und ihr kamen die Tränen. «Dieses Verfahren stellt alles in den Schatten.» Direkt an den Angeklagten gewandt sagte sie:«Sie sind ein fanatisch ideologisch motivierter Einzeltäter. Sie sind antisemitisch, ausländerfeindlich. Sie sind ein Menschenfeind.»
Der Verurteilte reagierte mit ausdruckslosem Gesicht auf den Urteilsspruch und begann, sich Notizen zu machen. Die Verteidigung hatte in ihrem Plädoyer kein anderes Strafmaß gefordert, sie bat um ein gerechtes Urteil. Gegen das kann siebeim Bundesgerichtshof innerhalb einer Woche Revision einlegen. Allerdings ließ derVerteidiger offen gelassen, ob er gegen die Verurteilung seines Mandanten Revision einlegen wird. Das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg sei «nicht wirklich überraschend gewesen», sagte Hans-Dieter Weber. «Ob es der Weisheit letzter Schluss ist, kann ich heute noch nicht sagen. Es ist offen, ob wir Revision einlegen. Eine Entscheidung ist insoweit noch nicht getroffen worden.»
Am Ende der Urteilsverkündung warf der Attentäter einen Gegenstand in Richtung der Nebenkläger. Es handelte sich wohl um einen zusammengerollten Hefter oder eine Mappe. Vier Wachleute packten den 28-Jährigen daraufhin sofort, fixierten ihn und trugen ihn aus dem Gerichtssaal, wie ein dpa-Reporter berichtete. Für seinen Verteidiger sei das überraschend.«Er hat sich bisher im Verhalten völlig unauffällig gezeigt. Ich weiß nicht, ob da irgendwo eine Provokation von der Nebenklägerseite aus erfolgt ist oder nicht. Er hat offensichtlich emotional auf irgendetwas reagiert.»
Das Verfahren gilt als größter und meist beachteter Prozess in der Geschichte Sachsen-Anhalts. 79 Zeugen und 15 Sachverständige befragte das Gericht, 45 Überlebende und Hinterbliebene wurden als Nebenkläger zugelassen, vertreten von 23 Anwälten.
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff hat nach der Verurteilung des Halle-Attentäters betont, dass es in Deutschland für Antisemitismus und Hass keinen Platz gebe. «Wir haben einen fairen Prozess erlebt», sagte der CDU-Politiker. «Das Urteil zeigt in großer Klarheit, dass wir in einem wehrhaften Rechtsstaat leben. In ihm haben alle Formen von Antisemitismus, Rassismus und Hass keinen Platz, werden konsequent verfolgt und ziehen deutliche Strafen nach sich.»
Das Land Sachsen-Anhalt habe zudem gemeinsam mit den jüdischen Gemeinden Maßnahmen zum Schutz des jüdischen Lebens ergriffen. Das beweise, dass auch über die Strafverfolgung des Täters hinaus wichtige Konsequenzen gezogen worden seien.
Der Beauftragte für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt, Wolfgang Schneiß, dankte vor allem den Nebenklägerinnen und Nebenklägern, die im Prozess immer wieder ihre Stimme erhoben hätten. «Sie haben unseren Blick auf die Hintergründe für fortbestehenden Antisemitismus in unserem Land gelenkt. Sie haben uns vor Augen geführt, dass wir ihm als ganze Gesellschaft energisch, mutig und gemeinsam entgegentreten müssen.»
Für Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) ist das Urteil gegen den Attentäter folgerichtig. Der Angeklagte habe während des gesamten Verfahrens nicht die kleinste Spur von Reue gezeigt. «Im Gegenteil: ihm fehlte jede Form der Empathie. Sein Auftreten war wirklich erschreckend», erklärte Wiegand. Die Stadt sei unmittelbar nach dem Anschlag zusammengerückt. «Das war kein kurzzeitiges Ereignis», sagte er. «Ich denke, aus so einer Tat erwächst in erster Linie eine Verantwortung. Und ich denke, die Stadt Halle und vor allem die Zivilgesellschaft sind dieser Verantwortung sehr gerecht geworden», sagte Wiegand.
Nach dem Attentat bleibe Halle eine Narbe. «Und diese Narbe wollen wir nicht verstecken. Sie wird uns erinnern und mahnen», sagte Wiegand mit Blick auf das Engagement der Zivilgesellschaft gegen Hass und Rechtsextremismus.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat den Prozess und das Urteil als wichtiges Zeichen gegen Antisemitismus gewürdigt. Das Verfahren sollte Vorbild für die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte in Deutschland sein, erklärte Zentralratspräsident Josef Schuster. «Nicht selten erleben wir in der Justiz eine Sehschwäche auf dem rechten Auge», sagte Schuster. «Im Prozess gegen den Halle-Attentäter wurde hingegen genau hingesehen. Diese Haltung, nicht der Täter, sollte Nachahmer finden.»
«Heute ist ein wichtiger Tag für Deutschland. Denn das Urteil macht deutlich, dass mörderischer Hass auf Juden auf keinerlei Toleranz trifft», erklärte Schuster weiter. Der Attentäter habe bis zum Schluss keine Reue gezeigt, sondern an seinem hasserfüllten antisemitischen und rassistischen Weltbild festgehalten.
Vor allem für die Angehörigen der beiden Ermordeten Jana L. und Kevin S. sowie für all jene Menschen, die an Jom Kippur 2019 nur knapp dem Tod entronnen und tief traumatisiert worden seien, sei das Urteil wichtig. Mit ihren Auftritten hätten die Nebenkläger und Zeugen dem Hass des Täters Menschlichkeit entgegengesetzt. «Sie und all jene, die Solidarität mit den Angegriffenen gezeigt haben, stehen für dieses Land, nicht der isolierte Attentäter», sagte Schuster weiter.
Nach wie vor sei es eine traurige Tatsache, dass viele Betroffene von Antisemitismus die Vorfälle nicht meldeten, weil sie eine unangemessene Reaktion der Polizei fürchteten. Auch der Umstand, dass sehr viele Verfahren bei antisemitischen Übergriffen eingestellt würden, lasse die Betroffenen resignieren, sagte Schuster.
Der Zentralrat der Muslime in Deutschland hofft auf eine abschreckende Wirkung des Urteils. Eszeige, dass Rassismus und Antisemitismus hierzulande niemals gebilligt und strikt geahndet und gerichtlich verfolgt würden, sagte der ZMD-Vorsitzende Aiman Mazyek laut Mitteilung. «Das Verfahren kann nur der Beginn einer Aufarbeitung und Verfolgung weiterer rassistischer Anschläge und Attentate in Deutschland sein», sagte Mazyek. «Der verurteilte Attentäter, der bereits Jahre zuvor durch muslimfeindliche Straftaten auffiel, zeigte vor Gericht fortwährend keine Reue und machte keinen Hehl aus seinem Hass auf Juden, Muslime und Frauen.»
Am Mittwoch, 9. Oktober 2019 hatte der 28-jährige Deutsche Stephan Balliet versucht, 51 Menschen zu töten, die in der Synagoge vonHalleden höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur feierten. Er scheiterte an der massiven Tür, erschoss daraufhin die Passantin Jana L. und später in einem Döner-Imbiss den 20 Jahre alten Auszubildenden Kevin S.. Auf der anschließenden Flucht verletzte er weitere Menschen. Der Prozess läuft seit Juli vor dem OLG Naumburg, aus Platzgründen findet er jedoch in Magdeburg statt. Balliet hat die Taten gestanden und mit antisemitischen, rassistischen und antifeministischen Verschwörungstheorien begründet.
Das mitanzuhören, war für allem für die vielen Überlebenden und Hinterbliebenen, die dem Prozess im Gerichtssaal folgten, immer wieder eine Zumutung gewesen. Der Angeklagte hatte jede Reue vermissen lassen. Viel mehr betonte er, dass er weitere Menschen töten würde, wenn er die Gelegenheit dazu hätte. Dutzende Überlebende und Hinterbliebene waren ihm im Prozess entgegen getreten und hatten dem Gericht als Zeuge oder als Nebenkläger im Schlussvortrag berichtet, wie sie den Anschlag überlebt hatten und mit welchen Folgen sie zu kämpfen hatten.
Unter anderem hatte der Vater von Kevin S. ausgesagt. Kevin war mit einer geistigen Behinderung geboren worden; Ärzte wussten nach Angaben seines Vaters lange nicht, ob er das Erwachsenenalter überhaupt erreichen würde. Der Vater schilderte vor Gericht, wie Kevin und die Familie nie aufgaben, wie er das Erwachsenenalter erreichte und nach langem Kampf und mit Hilfe seiner Familie sogar eine Ausbildungsstelle fand. Kurz nachdem er sie antrat, wurde er erschossen, als er im Döner-Imbiss zu Mittag aß.
Die Angehörigen von Jana L. waren nicht am Prozess beteiligt, ihr Name fiel dennoch ständig im Verfahren. Jana wurde von Freunden in Medienberichten als fröhlicher Mensch beschrieben, die gerne Musik hörte und Autogrammkarten sammelte. Sie ging am Tag des Anschlags zufällig an der Synagoge vorbei, als der Terrorist versuchte einzudringen. Sie erkannte, wie viele an diesem Tag, den Attentäter aber nicht als solchen, machte eine beiläufige Bemerkung und ging vorbei. Der Terrorist tötete sie dann mit Schüssen in der Rücken. Alle Überlebenden, die vor Gericht aussagten, erinnerten an die beiden Toten.
Anders als Kevin hatte der Angeklagte sich nach zwei gescheiterten Anläufen eines Studiums nicht mehr um eine Ausbildung oder einen Arbeitsplatz bemüht. Anders als Jana hatte er, wie der Prozess zeigte, auch weder Freunde noch Hobbys. Abwechselnd wohnte er im Haus seines Vaters und in der Wohnung seiner Mutter.Die Eltern machten vor Gericht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Die Nebenklage glaubte dem Angeklagten nicht, dass seine Eltern nichts von seinen Plänen gewusst hatten. Die Waffen, die er zum Anschlag nutzte, hatte er bei ihnen gebaut und versteckt.