Polizei vor dem Landgericht in Magdeburg

Gutachten im Halle-Prozess

Mutmaßlicher Attentäter ist gestört, aber voll schuldfähig

Das am Dienstag, 3. November 2020 erwartete psychiatrische Gutachten im Halle-Prozess bescheinigt dem Angeklagten eine volle Schuldfähigkeit. Dieser hat eine tiefe komplexe Persönlichkeitsstörung - aber voll schuldfähig ist er auch. Zu diesem Schluss kommt das psychiatrische Gutachten, das der forensische Psychiater Norbert Leygraf am Dienstag vor Gericht vortrug. «Eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit aus psychiatrischer Sicht ist nicht anzunehmen», sagte der Gutachter, der den Angeklagten im Gefängnis in Halle rund 12 Stunden lang untersucht und an vielen der nun 18 Verhandlungstage im Gerichtssaal beobachtet hatte. Der Angeklagte habe nicht im Wahn gehandelt, sondern im vollen und klaren Bewusstsein über seine Taten.

Eine geminderte Schulfähigkeit wäre die Grundvoraussetzung für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gewesen. Außerdem sei anzunehmen, dass der Angeklagte wieder so handeln würde, wenn er könnte. Diese Einschätzung ist wichtig für die Frage, ob bei einer Verurteilung nach der Freiheitsstrafe eine Sicherungsverwahrung verhängt werden kann.

Ohne Schuld handelt laut Strafgesetzbuch, wer wegen «krankhafter seelischer Störung», «tiefgreifender Bewusstseinsstörung» oder «schwerer anderer seelischer Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln». Zwar sei die diagnostizierte Persönlichkeitsstörung eine «seelische Abartigkeit» im juristischen Sinne, sagte Leygraf. Die habe die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht seiner Taten zu erkennen, und sein Steuerungsvermögen aber nicht beeinflusst. Das Video, das der Attentäter während des Anschlags drehte, zeige zudem, dass er während der Tat bei klarem Bewusstsein war.

Das Verfahren um den Anschlag läuft seit Juli. Am 9. Oktober 2019 hatte ein schwer bewaffneter Mann versucht, die Synagoge von Halle zu stürmen, um dort am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur ein Massaker anzurichten. Nachdem er nicht in das Gotteshaus gelangte, erschoss er eine 40 Jahre alte Passantin und kurz darauf einen 20-Jährigen in einem Döner-Imbiss. Der 28 Jahre alte Deutsche Stephan Balliet hat die Taten gestanden und mit antisemitischen, rassistischen Verschwörungstheorien begründet. Der Prozess läuft vor dem Oberlandesgericht Naumburg, findet aus Platzgründen aber in Magdeburg statt.

Leygraf stellte bei seiner Untersuchung unter anderem Züge von Autismus und Paranoia fest. Eine «isolierte, wahnhafte Störung» lasse sich bei dem Angeklagten aber nicht feststellen. Dafür sei er zu planvoll und beherrscht vorgegangen. Ein Täter im Wahn hätte demnach zum Beispiel nicht, wie der Attentäter, einen günstigen Zeitpunkt seiner Tat abwarten können, sondern aus Zwang spontan gehandelt. Typisch für einen wahnkranken Täter sei außerdem ein übersteigertes Selbstbild. Auch das zeige der Angeklagte nicht. So habe der Angeklagte gehandelt, um vermeintlich seine Familie und weiße Männer zu schützen, nicht aber explizit und vor allem sich selbst.

Auch sehe der Angeklagte sich selbst nicht als Auserwählten, der sich zu der Tat berufen gefühlt hätte. Vielmehr habe er nüchtern festgestellt, dass er, arbeitslos und ohne Freundin oderFrau, nicht viel zu verlieren hatte und damit zu der Tat in der Lage sei.

In den Gesprächen sei der Angeklagte meist ruhig gewesen, in Bezug auf seine Taten auch redselig, berichtete der Psychiater. Wortkarg und zuweilen aggressiv habe er auf Fragen nach seiner Vorgeschichte und seiner Familie reagiert. Dieses Verhalten hatte der Angeklagte auch vor Gericht gezeigt. Außerdem habe Balliet in den Gesprächen großen Wert darauf gelegt, nicht als psychisch krank angesehen zu werden, wie das oft bei islamistischen Attentätern der Fall sei.

Auch vor Gericht legte der Angeklagte viel Wert darauf, dass er psychisch gesund sei. Der 28-Jährige bemängelte einige Stellen des Gutachtens und behauptete, dort falsch wiedergegeben worden zu sein. Davon fühle er sich «in seiner Ehre als Antisemit» verletzt, sagte Balliet und wurde dabei merklich lauter.

Schon vor Leygraf hatte eine Psychologin ein testpsychologisches Zusatzgutachten zur Intelligenz des Angeklagten vorgetragen. Die Gutachterin ermittelte bei dem Mann einen IQ-Wert von 105, das sei durchschnittlich. Auch seine kognitiven Fähigkeiten sind demnach unauffällig. Außerdem bescheinigte die Psychologin dem Angeklagten Anzeichen von Depression, Paranoia und eine gewisse Naivität.

Aussage von BKA-Ermittler im Halle-Prozess fällt wegen Corona aus

Ein Beamter des Bundeskriminalamtes (BKA) kann am Mittwoch, 4. November 2020 nicht wie geplant im Prozess zum rechtsterroristischen Anschlag von Halle aussagen. Der BKA-Computer-Experte sei in Quarantäne, weil sich ein Kollege mit dem neuartigen Coronavirus infiziert habe, sagte die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens. Die Ermittlungsergebnisse des Mannes lägen jedoch schriftlich vor, die Vernehmung soll daher nicht nachgeholt werden.

Mertens kündigte am Dienstag an, die Beweisaufnahme beim übernächsten Termin am 17. November zu schließen, sollten bis dahin keine neuen Beweisanträge gestellt werden. Dann könnten Bundesanwälte, Verteidigung und die Anwälte der Nebenklage ihre Plädoyers halten. Da die Nebenklage mit über 20 Anwälten am Verfahren beteiligt ist, von denen jeder plädieren kann, erwartet das Gericht, dass sich die Schlussvorträge über mehrere Tage ziehen. Ein Urteil könnte dann am 11. Dezember gesprochen werden, prognostizierte Mertens vorsichtig.

Masken für alle und strengere Abstandsregeln

Im Verfahren um den rechtsterroristischen Anschlag von Halle gelten ab sofort deutlich strengere Corona-Regeln. Richterin Ursula Mertens ließ am Dienstag, 3. November 2020 FFP2-Schutzmasken an alle Teilnehmer, Berichterstatter und Besucher desProzesses austeilen. Die müssen von nun an ununterbrochen getragen werden, zuvor hatten Alltagsmasken gereicht. Ausnahmen sind der Angeklagte, die Richter und die Zeugen während ihrer Aussage.

Mertens ließ sich für die neuen Regeln für den Saal und die Zeugen vom Virologen Alexander Kekulé beraten. Gemäß seiner Empfehlung soll die Sitzung von nun an alle 45 Minuten unterbrochen werden um zu lüften. Gegessen und getrunken werden soll auf den Gängen nur noch dann, wenn ein Mindestabstand von zwei Metern zu anderen Menschen eingehalten werden kann. Die Justizbediensteten wiesen Besucher und Journalisten bereits vor Sitzungsbeginn auf die neuen Regeln hin und sorgten dafür, dass sich keine Gruppen bildeten.

Hintergrund

Das Verfahren um den Anschlag läuft seit Juli. Am 9. Oktober 2019 hatte ein schwer bewaffneter Mann versucht, die Synagoge von Halle zu stürmen, um dort am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur ein Massaker anzurichten. Nachdem er nicht in das Gotteshaus gelangte, erschoss er eine 40 Jahre alte Passantin und kurz darauf einen 20-Jährigen in einem Döner-Imbiss. Der 28 Jahre alte Deutsche Stephan Balliet hat die Taten gestanden und mit antisemitischen, rassistischen Verschwörungstheorien begründet. Der Prozess läuft vor dem Oberlandesgericht Naumburg, findet aus Platzgründen aber in Magdeburg statt.

Seite teilen