Wolf

Leben mit dem Wolf

Zwischen Angst und Resignation

In Deutschland gibt es immer mehr Wölfe. Über den Umgang mit dem Raubtier wird nun auch in der Bundesregierung gestritten. Die Betroffenen in den Wolfsregionen warten darauf, dass endlich gehandelt wird - und berichten von unheimlichen Erlebnissen.

Dichte Wälder, weite Felder, idyllische Auen, mittendrin liegen Dörfer mit kleinen Häusern und großen Gärten, dazu Gehöfte. Die Landschaft nördlich von Görlitz in Ostsachsen strahlt Ruhe aus. Doch die ist gestört, seit die Oberlausitz eines der am stärksten von Wölfen besiedelten Gebiete Europas geworden ist. Sachsen drängt seit langem vergeblich darauf, dass der Bestand reguliert wird - das aber ist Sache des Bundes.

Seit der Wiederansiedlung der streng geschützten Tiere vor rund 20 Jahren haben sich die Wölfe mancherorts rasant vermehrt und ausgebreitet - von Ost nach West. Ihr Revier sind nicht mehr nur verlassene Gegenden und Wälder, sondern zunehmend auch besiedeltes Gebiet wie in der Oberlausitz.

Oberlausitz zeigt Brisanz des Themas

Nicht nur Sachsen macht Druck auf die Bundesregierung, in der die Umwelt- und die Agrarministerin über den Umgang mit dem Wolf streiten. Es geht um einen leichteren Abschuss auffälliger Tiere, eine Bundesratsinitiative von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern zielt auf ein stärkeres Eindämmen der Wölfe. Die breiten sich auch in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen stark aus, reißen immer wieder Schafe und andere Nutztiere.

«Da, wo sie sind, machen sie viel Ärger», sagt Hans-Dietmar Dohrmann in Rothenburg in der Oberlausitz. Der frühere Bürgermeister der ostsächsischen Kleinstadt klickt sich durch Fotos und Videos, die Wildtierkameras und Jäger von Wolfsrudeln nachts im Wald oder am Tag im Gewerbegebiet machten: «Das nächste Haus nur 800 Meter entfernt.»

Nächtliches Geheul und erschreckende Nähe

«Jede Nacht hören wir Wölfe heulen, am alten Flugplatz sogar aus drei Richtungen», sagt der 68-Jährige. Und es werde immer stärker. «Im Oktober 2018 guckte ein Mann in der Dunkelheit aus dem Fenster, da standen auf seinem Hof zehn, elf Wölfe unter dem Schlafzimmerfenster.» Die Tiere zögen mittlerweile auch im Rudel durch Ortschaften. «Sie reißen nicht aus, gucken dich an, aber bleiben auf Distanz.»

Den Einwohnern mache das Angst: Kinder gingen auf dem Land nicht mehr zu Fuß zur Schule oder fahren mit dem Rad, berichtet Dohrmann. Auch Pilz- und Blaubeersuche allein im Wald sei nur Erinnerung. Es gebe Wölfe, die sich Menschen nähern und dessen Reaktion testeten. Und er beobachte die Jäger im Wald. «Wölfe laufen direkt unter dem Hochsitz vorbei.» Da mussten auch schon Waidmänner abgeholt werden. Wölfe lauerten auch schon mal, wenn die Beute auf dem Anhänger verstauen - oder besetzten sie. «Wenn ein Schuss fällt, schaut auch der Wolf, ob es was zu holen gibt.» Auch Kirrungen, wo für Wild Getreide ausgestreut wird, kontrollierten die Raubtiere regelmäßig. «Das ist leichte Beute.» In Gärten machten Wölfe sich zuweilen über Komposthaufen her. Selbst Hunde seien bereits verschwunden.

Die Bevölkerung habe gelernt, damit umzugehen, sagt Dohrmann. Von Panik und Hysterie gibt es keine Spur. «Wir sind einfach wachsamer als früher», erklärt eine Frau in Lodenau, einem Ortsteil von Rothenburg. Man könne sich ja nicht verbarrikadieren. «Wir haben uns an den Wolf gewöhnt.» Ganz verschwinden soll er auch gar nicht. «Es sind zu viele Tiere geworden und hier ist der Tisch jeden Tag gedeckt», sagt Dohrmann.

Isegrim verstört Wild und Tierhalter

Folgen hat seine Existenz auch für Wirtschaft und Wildbestand. «Der Generationsaufbau bei einigen Wildarten ist gestört», beschreibt Jäger Dohrmann die Lage. Der Wolf habe das Muffelwild in der Region umRothenburg ausgerottet. Hohe Schutzzäune mit Stacheldraht oder Gummigeschosse zur Vertreibung schreckten Wölfe nicht ab, wenn sie Hunger haben und Beute vor der Nase. «Das sehen wir zur Genüge.»

Auch Günter Prötzig aus Lodenau ärgert sich darüber, dass die Politik in Sachen Wolf in Großstädten ohne Berührung mit dem Raubtier gemacht wird. «Wir erleben den Wolf täglich», sagt der Hühnerzüchter. In seinem Betrieb direkt an der Neißeaue leben 22 000 Legehennen draußen im Freien, und müssen nachts in den Stall. Seit ein Angestellter in der Dämmerung einem Wolf gegenüberstand, weigern sich Kollegen, im Dunkeln zur Arbeit zu kommen und die Hühner in den Stall zu bringen.

Auch Volker Hamann kann ein Lied von Wölfen singen. «Sie beunruhigen meine Tiere», sagt der Milchviehhalter im knapp 30 Kilometer südlich von Rothenburg gelegenen Königshain. Im Herbst 2012 ist ihm eine Rinderherde von der Weide ausgebrochen, nun lässt Hamann nicht mal mehr seine Pferde dort grasen. Das saftig grüne Areal inmitten der Hügellandschaft ist umgeben von Wald und Wolfsrevier. Das Muffelwild, laut Hamann gut 600 Tiere, sei schon ausgerottet.

Bevölkerung und Betroffene resigniert und verärgert

In den Wolfsgebieten hat sich der Ton verschärft. Viele Bürger fühlen sich allein gelassen und haben kein Vertrauen mehr in die offiziellen Stellen. «Der Wolf gehört in die Natur, aber muss genauso geregelt werden wie anderes Wild. In Dörfern hat er nichts zu suchen», sagt Hühnerzüchter Prötzig. «Wir hören nachts die Hunde bellen und wissen, sie ziehen wieder durchs Dorf», beschreibt sein Freund Gerd Eberle die Realität. Wenn einer zu sehen sei, kämen plötzlich acht bis zehn nach. Auch bei der Jagd habe man sie an den Fersen.

Die Oberlausitz hat mittlerweile die größte Wolfsdichte in ganz Europa, der Bestand mit mehreren Rudeln auf vier Quadratkilometern ist mittlerweile dichter als von Experten für möglich gehalten - zu Lasten der Natur und des einheimischen Wildes. «Wenn es dunkel wird, ist keiner mehr unterwegs, bis auf die Jäger», sagt Eberle. Bedenken und Ängste seien lange ignoriert worden, das habe zu Misstrauen und Resignation geführt. «Der Wolf hat den kompletten Schutz und jede Freiheit, nur unsere ist eingeschränkt», kritisiert er. Sein Nachbar lasse die Kinder nicht mehr allein zur Schule aus dem Haus, seit sie vor zwei Jahren in die Augen eines Wolfs blickten, als er die Tür aufmachte.

Wolfsexperten halten Angriff für unwahrscheinlich

Allen unheimlichen Erlebnissen zum Trotz: Dass es tatsächlich zu einem Wolfsangriff auf einen Menschen kommen könnte, halten Experten für sehr unwahrscheinlich, wenn auch nicht völlig ausgeschlossen. «Wenn wir in die Länder schauen, wo der Wolf schon immer war, können wir beruhigt sein», sagt Experte und Buchautor Frank Faß, der ein niedersächsisches Wolfszentrum leitet. «Übergriffe von Wölfen auf Menschen waren dort bisher extrem selten.» Einer norwegischen Studie zufolge wurden in ganz Europa zwischen 1950 und 2000 neun Menschen getötet - bei geschätzten 10000 bis 20000 Wölfen am Ende dieser Zeitspanne. Fünf der Wölfe seien tollwütig gewesen, erklärt Faß.

Auch die Buchautorin und Fachjournalistin Elli H. Radinger warnt vor Panikmache. Wolfseltern brächten ihrem Nachwuchs bei, was sichere Nahrung sei. «Wir bewegen uns anders, als ihre "normale" Beute: Wir laufen selbstbewusst und vor allem aufrecht», erklärt sie. «Auch Bären richten sich manchmal auf, und Wölfe meiden Bären.» Durch Tollwut seien Menschen früher angegriffen worden, bestätigt sie. «Allerdings ist diese Krankheit in Mitteleuropa längst ausgerottet.»

Vor Ort herrscht trotzdem Angst

Wer von Süden nach Rothenburg fährt, kommt an einem Freizeitpark mit Riesenspielplatz, Baumhaushotel und Tiergehegen vorbei. Auch dort müssen die Tiere abends in den Stall, der Aufwand sei größer geworden, sagt Leiter Jürgen Bergmann. Und Mitarbeiter fühlten sich unsicher. «Ein paar ältere Kolleginnen, die im Morgengrauen mit dem Rad zur Arbeit kommen, haben Angst.» Andererseits erlebten die Besucher, meist Touristen von außerhalb, eine intakte Natur und ein Stück Wildnis.

Dass Menschen in anderen Regionen den Takt in Sachen Wolf vorgeben - aus Sicht von Dohrmann, Eberle und Prötzig ist auch das ein Problem. «Über den Wolf wird dort entschieden, wo er gar nicht oder nicht so verbreitet ist, dabei betrifft es unser Leben!» Die Menschen verlören die Geduld angesichts der Ignoranz gegenüber ihrer Situation und der Uneinigkeit im Bund sagt der Görlitzer Landrat Bernd Lange (CDU). «Dabei geht es nicht um Totalabschuss, sondern um eine Regulierung.»

Freistaat Sachsen reagiert endlich

Ab Ende Mai gilt in Sachsen immerhin eine neue Wolfsverordnung. «Wir sind dort auch an die Grenzen des Möglichen gegangen», sagte der sächsische Landwirtschaftsminister Thomas Schmidt (CDU). Damit können die strengstens geschützten Wölfe unter erweiterten Bedingungen geschossen werden. Bislang sind die Hürden für eine «gezielte Entnahme eines Problemwolfs» sehr hoch und unterliegen stets einer Einzelfallentscheidung der unteren Naturschutzbehörde.

Künftig dürfen Wölfe verjagt werden, wenn sie sich einem Wohngebäude oder Menschen auf unter 100 Meter nähern, sich nicht verscheuchen lassen und das öffentliche Leben gestört wird. Wenn sie Menschen weniger als 30 Meter nahekommen und eine Vergrämung erfolglos ist, darf ein Tier abgeschossen werden. Auch wenn sie Schutzmaßnahmen für Nutztiere innerhalb von zwei Wochen zwei Mal überwinden, ist das möglich. Dabei ist künftig aber die Region entscheidend, es muss nicht mehr die gleiche Herde sein.

Problemlösung liegt beim Bund

Gegenüber dem Bund fordert Sachsen, dass die deutschen Regelungen zum Wolf entschärft und die europäische FFH-Linie 1:1 umgesetzt werde. Damit würde unter anderem die Schwelle der Schadenshöhe sinken, die Nutztierhalter für einEingreifen nachweisen müssten. In Deutschland müssen bislang erhebliche Schäden nachgewiesen werden, was für Landwirte im Nebenerwerb schwer ist.

Die Zeit drängt inSachsen, denn dort wird am 1. September ein neuer Landtag gewählt. «Es muss gehandelt werden», mahnt Landrat Lange angesichts der Stimmung in seiner Region. «Am Wolf entscheidet sich die Wahl.» Für Geflügelzüchter Prötzig ist klar: «Die Zeichen stehen auf Protest.»

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