Trauer und Wut bei den Hinterbliebenen - ein breites Grinsen beim Angeklagten: Das Video, das der Terrorist vom Anschlag in Halle während der Tat am 9. Oktober 2019 ins Internet gestreamt hat, wurde am zweiten Prozesstag vor Gericht abgespielt. Einige Nebenkläger, Verletzte und Hinterbliebene verließen am Mittwoch den Raum, während die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens das gut halbstündige Video vorspielen ließ. Andere hielten sich die Augen zu, schauten weg oder hielten die Hand ihrer Sitznachbarn und Anwälte.
Stephan Balliet lächelte zunächst, als er auf den Monitor im blickte. Die Nebenklage machte einen im Gerichtssaal sitzenden psychologischen Gutachter auf diese Reaktion aufmerksam. «Ich habe über ein, zwei Sachen schmunzeln müssen, dämliche Witze, nicht mehr», sagt der 28-Jährige später. Überhaupt wirkte der Beschuldigte zu Beginn des zweiten Verhandlungstags gut gelaunt. In Pausen plauderte er grinsend mit seinen Verteidigern oder ließ seine Blicke durch die Reihen der Nebenkläger schweifen.
Die Bundesanwaltschaft wirft dem geständigen 28-Jährigen vor, «aus einer antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Gesinnung heraus einen Mordanschlag auf Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens» geplant zu haben. Am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur hat er schwer bewaffnet versucht, die Synagoge in Halle zu stürmen. Laut Anklage wollte er möglichst viele der 52 Besucher der Synagoge töten. Als er sich keinen Zutritt verschaffen konnte, tötete er eine Passantin vor der Synagoge und einen Mann in einem Dönerimbiss. Weitere Menschen verletzte er bei der Flucht. 13 Straftaten werden dem Angeklagten angelastet, darunter Mord und versuchter Mord.
43 Nebenkläger wurden bis Prozessbeginn zugelassen. Die Zahl erhöht sich voraussichtlich noch. Am Mittwoch wurde bekannt, dass ein Ehepaar, das sich zum Zeitpunkt des Anschlags in der Synagoge befand, als Nebenkläger gelistet werden will. Nach Sichtung des Videos durften - nach einer Befragung durch die beiden Vertreter der Bundesanwaltschaft - erstmals die Anwälte der Hinterbliebenen und Überlebenden des rechtsterroristischen Anschlags Balliet befragen.
Mehrmals irritierten sie diesen, vor allem mit persönlichen Fragen und indem sie ihn immer wieder mit seinen eigenen Einlassungen konfrontierten. Auch bei ihren Fragen reagierte der Angeklagte immer wieder flapsig und kicherte. Mehrfach ermahnten die Nebenklägervertreter ihn, ernst zu bleiben. «Ich stelle Fragen, Sie antworten, oder Sie antworten nicht, aber spielen Sie keine Spielchen!», meinte etwa einer der Juristen.
Mehrfach kündigte der 28-Jährige an, keine weiteren Fragen mehr zu beantworten. Vor allem Fragen über sein früheres Leben und familiäres Umfeld waren dem Beschuldigten augenscheinlich unangenehm. Seine Familie leide sehr unter dem, was er gemacht habe, sagte der Angeklagte in einer seiner seltenen ernsten Antworten.
Am ersten Prozesstag hatte er eingeräumt, schwer bewaffnet versucht zu haben, ein Massaker in der Synagoge von Halle anzurichten. Auch die weiteren Taten gab er zu. Reue zeigte der Sachsen-Anhalter bislang nicht. Die Synagoge anzugreifen, sei kein Fehler gewesen, so der 28-Jährige. «Das sind meine Feinde.» Das einzige, was er zu bedauern scheint, ist, dass die beiden Menschen, die er tötete weder Muslime noch Ausländer waren. Sie seien nicht seine «Feinde» gewesen, so der Angeklagte.
Der 28-Jährige versucht, dem Gericht zu erklären, woran er gescheitert ist und warum er in bestimmten Situationen so gehandelt hat, wie er gehandelt hat. Das wurde schon am ersten Verhandlungstag deutlich, als er seine Gedanken beschrieb nach dem gescheiterten Anschlag auf die Synagoge:«Jetzt hab ich mich global lächerlich gemacht.» Dem 28-Jährigen geht es offensichtlich nicht darum, sich zu entschuldigen oder gar die Tat zu leugnen.
Eine der Nebenklägerinnen sagte am Rande der Verhandlung, das Verhalten des Angeklagten mache sie aggressiv. Zum Abbau von Aggressionen erwäge sie ernsthaft, das Gericht zu bitten, im Aufenthaltsbereich einen Boxsack aufzuhängen. Andere reagierten auf das Verhalten des Mannes ruhiger, eher traurig als wütend.
Für Betroffene stehen während des Verfahrens auch sechs Betreuer bereit. «Wir wollen Ängste und Unsicherheiten nehmen», sagte die zuständige Referatsleiterin im Justizministerium, Manuela Naujock. In erster Linie seien sie für die Verletzten und Hinterbliebenen des Anschlags da. Die wurden durch das Video am Mittwoch sehr plastisch daran erinnert, wie an Jom Kippur ein Terrorist einen ihrer Angehörigen getötet hat oder sie selbst töten wollte. Naujock sagte: «Viele haben das Video zum ersten Mal gesehen.»
Das Oberlandesgericht hat zunächst Verhandlungstage bis Mitte Oktober geplant. Wegen des großen öffentlichen Interesses und aus Sicherheitsgründen erfolgt die Verhandlung im größten Verhandlungssaal Sachsen-Anhalts in Magdeburg. Bislang sind 147 Zeugen benannt, darunter 68 Ermittlungsbeamte. Der Prozess soll nächste Woche Dienstag fortgesetzt werden.
DER PROZESS
Bislang sind 18 Verhandlungstermine für den Prozess vorgesehen. Der bislang letzte Termin soll am 14. Oktober 2020 stattfinden. Die Anklage führt die Bundesanwaltschaft. Stephan B. wird in Magdeburg der Prozess gemacht, weil am dortigen Landgericht die Sicherheitsbedingungen erfüllt werden können. Der Prozess findet in einem mit rund 400 Quadratmetern verhältnismäßig großen Verhandlungssaal statt.
Gut 40 regionale, nationale und internationale Medien haben in einem Auslosungsverfahren einen Platz im Sitzungssaal erhalten, darunter auch die «New York Times». Wegen der Corona-Pandemie gelten zudem die allgemeinen Hygieneregeln.
DIE TAT
Am 9. Oktober 2019 versucht ein schwerbewaffneter Mann, in die Synagoge in Halle einzudringen, in der Gläubige den höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, begehen. Als er scheitert, erschießt er in der Nähe eine 40 Jahre alte Frau und einen 20-Jährigen. Auf der Flucht verletzt der Täter ein Paar schwer, bevor er nahe Zeitz von zwei Polizisten festgenommen wird. Das Geschehen streamt er live ins Internet.
Der Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt sieht in der Tat auch einen «erschreckenden Beleg» für einen seit längerem gestiegenen Antisemitismus, «der sich sodann als Motivation für rechtsextremistische Straf- und auch Gewalttaten widerspiegelt.» Der Inlandsgeheimdienst sieht auch Parallelen zu einem rechtsextremen Anschlag im neuseeländischen Christchurch. Im März 2019 wurde dort in zwei Moscheen auf muslimische Gläubige geschossen, mehr als 50 Menschen starben.
DIE VERTEIDIGUNG
Bislang hat sich Rechtsanwalt Hans-Dieter Weber mit öffentlichen Äußerungen weitgehend zurückgehalten. Kurz nach dem Anschlag hatte er dem Südwestrundfunk (SWR) gesagt, sein Mandant Stephan B. sei intelligent, wortgewandt, aber sozial isoliert. Auslöser für die Tat sei gewesen, dass er andere Menschen für eigene Probleme verantwortlich mache. Webers Kanzlei teilte der Deutschen Presse-Agentur mit, dass sie in Absprache mit dem Mandanten vor dem Prozess keine Stellungnahme abgeben werde.
DER ANGEKLAGTE
Stephan B., geboren im Januar 1992 in der Nähe der Lutherstadt Eisleben, gilt als sogenannter einsamer Wolf. Ein Chemie-Studium brach er ab. In einem elf Seiten langen «Manifest», das er vor der Tat veröffentlichte, wimmelt es vor antisemitischen Begriffen. B. spricht etwa von einer «zionistisch besetzten Regierung» - ein klassischer judenfeindlicher Begriff aus der rechtsextremen Szene.
Noch bevor die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, hatte er eine Grundausbildung bei der Bundeswehr absolviert und wurde laut Verteidigungsministerium auch an der Waffe ausgebildet.
«In seinem Weltbild ist es halt so, dass er andere verantwortlich macht für seine eigene Misere, und das ist letztendlich der Auslöser für dieses Handeln», erklärte sein Verteidiger kurz nach der Tat. Er sehe Kräfte am Werk, die im Verborgenen wirkten, aber sehr einflussreich seien und auf die Politik einwirken könnten, so Weber.
Bei den Sicherheitsbehörden war er zuvor nicht in Erscheinung getreten, wie der Verfassungsschutz mitteilte. Die von ihm veröffentlichten Schriften und das live übertragene Video belegten eine antisemitische und fremdenfeindliche Grundeinstellung. Diese stehe augenscheinlich im Zusammenhang mit einer frauenfeindlichen Haltung, die zur Radikalisierung des Angeklagten führte. Diese habe in «einschlägigen Internetforen» stattgefunden. Für Kontakt zu Rechtsextremisten in der analogen Welt hat der Verfassungsschutz eigenen Angaben zufolge keine Belege gefunden.
DIE NEBENKLÄGER
43 Nebenkläger sind laut Gericht zugelassen worden. Viele von ihnen sind bislang nicht an die Öffentlichkeit getreten. Grundsätzlich können sich Menschen einer Nebenklage anschließen, die unter anderem von einer Tat «gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit» betroffen sind, wie das Gericht mitteilte. Weitere Details zu den Nebenklägern nannte das Gericht nicht. Neben Vertretern der Jüdischen Gemeinde Halle wie dem Vorsitzenden Max Privorozki, hat auch der Amerikaner Ezra Waxman vor dem Prozess mit Journalisten geredet.
Im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur sagte der 32-Jährige: «Ich bin ein bisschen nervös.» Vor der Verhandlung hatte der Forscher der TU Dresden in Österreich Kraft getankt – die Ruhe vor dem Sturm, wie er sagt. Gemeinsam mit Freundinnen und Freunden habe er 2019 an Jom Kippur kleinere und ältere jüdische Gemeinden beleben wollen und sei deswegen nach Halle gekommen.
«Ich weiß nicht genau, was ich von dem Prozess erwarten soll», sagt er. Natürlich hoffe er, dass Stephan B. so lange hinter Gitter komme, wie er eine Gefahr für die Gesellschaft sei. Zudem wolle er mehr über ihn erfahren, verstehen wie er denkt und was ihn antreibt, weil er sich dann sicherer fühle. «Ich kenne niemanden wie ihn, deswegen würde ich gerne verstehen, wie er Hass auf Menschen entwickeln konnte, die er nicht mal kennt.»
Auch der Taxifahrer Daniel Waclawczyk gehört zu den Nebenklägern. Am 9. Oktober war sein Wagen ihm zufolge in einer Werkstatt - die Reifen sollten gewechselt werden - als das Taxi mit Waffengewalt geraubt wurde, um die Flucht fortzusetzen. Zum Prozess sagte er: «Der Täter soll seine gerechte Strafe bekommen. Zudem hoffe ich, dass ich die wirtschaftlichen Schäden ersetzt bekomme.» Er beziffert den Schaden mit rund 12 000 bis 14 000 Euro auch wegen Umsatzverlusten. Erst am 9. Dezember sei das gestohlene Taxi wieder einsatzbereit gewesen.
Die Doktorandin der Philosophie Christina Feist sagte vor dem Prozess der Zeitung «taz», sie wolle wissen, ob sich der Attentäter wirklich unbemerkt radikalisiert habe. Zudem habe sie noch einen Rest Hoffnung, dass der Prozess Menschen aufrütteln werde. Sie war bei dem Anschlag ebenfalls in der Synagoge.
Am Donnerstag, 16. Juli 2020 wurde zudem ein Betreiber des vom Anschlag betroffenen Döner-Imbisses als Nebenkläger zugelassen. Das bestätigte ein Gerichtssprecher der Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage. In dem Geschäft war der 20-Jährige erschossen worden. Zuvor hatte die «Mitteldeutsche Zeitung» darüber berichtet.
DIE VORSITZENDE RICHTERIN
Ursula Mertens ist in Sachsen-Anhalt seit vielen Jahren tätig, am Oberlandesgericht Naumburg (OLG) und am Landgericht Halle. Sie leitete bisher eine Vielzahl an Prozessen - unter anderem gegen den selbst ernannten «König von Deutschland» aus Wittenberg, Peter Fitzek. Der Verfassungsschutz rechnete den gelernten Koch der Reichsbürgerszene zu, was er vehement bestritt.