Wegen einer hohen Anzahl an Coronavirus-Infizierten stehen zwei Ortsteile der Stadt Jessen in Sachsen-Anhalt unter Quarantäne. Seit Donnerstagmorgen kontrollieren Feuerwehrleute und Polizisten die Zufahrtsstraßen, wie der Sprecher des Landkreises Wittenberg sagte. Die Quarantäne soll bis zum 10. April dauern. Dem Sprecher zufolge sind rund 8000 Einwohner betroffen. Anlass ist ein Corona-Ausbruch in einem Pflegeheim.
Sechs Menschen sind wegen des Virus im Krankenhaus, dem Landkreis zufolge in stabilem Zustand. Keiner der Patienten liege auf der Intensivstation, sagte Landkreis-Sprecher Ronald Gauert am Donnerstag.: Es handele sich um ältere Menschen, sie seien daher vorsichtshalber und zur Beobachtung ins Krankenhaus gekommen.
Der Landkreis hatte am Mittwochabend für die beiden Jessener Ortsteile eine Quarantäne angekündigt, nachdem es dort einen Corona-Ausbruch gegeben hatte. 41 bestätigte Fälle habe es in den Ortsteilen gegeben, sagte Gauert - von 53 im gesamten Landkreis. Nach bisherigen Erkenntnissen habe ein Reisender das Virus aus Österreich eingeschleppt. Es breitete sich dann unter anderem in dem Pflegeheim aus.
«Das Haus verlassen darf man, um sich auf kürzestem Wege etwas zu Essen zu holen oder in die Apotheke zu gehen», sagte der Sprecher. Der Zutritt oder die Zufahrt zu den gesperrten Ortsteilen ist dem Landkreis zufolge nur Menschen gestattet, die dort ihren Haupt- oder Nebenwohnsitz haben und sich unverzüglich in die häusliche Quarantäne begeben. Ausnahmen sollen für Menschen gelten, die «Maßnahmen der medizinisch indizierten Pflege wahrnehmen, Rettungsdienste, ärztliche Hausbesuche» sowie Mitarbeiter bestimmter lokaler Unternehmen.
Kreis Wittenberg richtet Abstrichzentrum ein
Mit dem Testzentrum in einer Mehrzweckhalle will der Kreis sich einen Überblick über das Ausmaß der Corona-Fälle in Jessen verschaffen. Er warnt die Anwohner aber davor, auf eigene Faust in das neue Abstrichzentrum zu kommen. Es könnten nicht alle 8.000 Menschen unter Quarantäne getestet werden, so Sprecher Gauert. Wer bei sich einen Corona-Infektion vermutet, braucht erst eine Überweisung vom Hausarzt oder vom Gesundheitsamt. Das Land Sachsen-Anhalt rüstet das Testzentrum mit zusätzlicher Schutzkleidung aus.
Jessen ist ein wichtiger Standort der Nahrungsproduktion im Land
Eine Atemschutzmaske bekommt man am Ortseingang aufgesetzt, dann darf man passieren. Jedenfalls als Pfleger, als Supermarkt- oder Molkerei-Mitarbeiter oder Angehöriger sonst einer Zunft, die dieser Tage als unabdingbar gilt. Jeder andere, der in die Jessener Ortsteile Schweinitz und Jessen will, oder heraus, wird von Feuerwehr und Polizei daran gehindert. Nicht alle Jessener zeigten Verständnis für die drastische Maßnahme. «Wir erklären jetzt viel», formulierte Landkreis-Sprecher Ronald Gauert es diplomatisch. Nicht alle würden das verstehen.
Die Kleinstadt ist am Vormittag wie ausgestorben, nur vereinzelt schlängeln sich Autos durch die menschenleeren Straßen. Die Landesregierung unterstütze die Behörden vor Ort nach Kräften, heißt es aus dem Gesundheitsministerium. So habe das Ministerium Experten des Robert-Koch-Instituts aus Berlin vermittelt, die bei den Ermittlungen zur Ausbreitung des Virus helfen sollten. Außerdem schickte Magdeburg eine extra-Fuhre Schutzkleidung und Atemmasken in die Stadt.
Am Donnerstagmittag trafen sich die Bürgermeister aus dem Landkreis, Landrat Dannenberg, Polizei, Feuerwehr und Ärzte zum Krisenstab und justierten die Allgemeinverordnung noch einmal nach. Blieb der Landkreis in seiner ursprünglichen Kommunikation noch recht ungenau, listete er ab Donnerstagnachmittag präzise auf, wer im Sperrgebiet noch arbeiten darf:Elf Unternehmen führt der Landkreis auf, darunter der Tiefkühlkost-Hersteller Jütro, der in Jessen mehrere Fabriken betreibt. Die Standorte könnten dank der Ausnahmegenehmigung gerade so die Prokution aufrecht erhalten, heißt es aus dem Unternehmen. Auch die Bayerische Milchindustrie, eine der größten Molkereien und Käsereien Sachsen-Anhalts, darf weiterproduzieren.
«Trotz Corona geben die Kühe ja Milch», erklärt CDU-Fraktionschef Siegfried Borgwardt, in dessen Wahlkreis Jessen liegt, die Ausnahmegenehmigung. Die Milchbauern müssten ihre Milch auch weiterhin loswerden und auch für die Lebensmittelversorgung des Landes sei Jessen nicht unwichtig.
Überhaupt werden in der Region viele Nahrungs- und Genussmittel hergestellt, doch nicht alle davon schätzt die Politik als unverzichtbar ein. Dem Winzer und Obstbauer Frank Hanke zum Beispiel ist die Verzweiflung anzuhören. Das Familienunternehmen aus Jessen mit 120-jähriger Tradition liege «mittendrin», genau zwischen den beiden unter Quarantäne stehenden Ortschaften. Ein Hubschrauber fliegt dabei über den Landstrich, wohl um die Einhaltung der Verordnung zu kontrollieren.
«Wenn wir nicht arbeiten dürfen, wäre das für uns eine Katastrophe, wir wissen dann nicht, wie es weitergehen soll», sagt er. Schon der Wegfall der Saisonarbeiter aus Osteuropa in diesem Jahr sei ein herber Einschnitt für den Betrieb. Sie seien auch nicht ohne weiteres zu ersetzen. Für die Arbeit im Wein- und Obstbau seien Sachkenntnis, Erfahrung, Motivation und auch Kondition nötig, um die harte Arbeit im Weinberg und auf dem Feld bei Wind und Wetter durchzustehen. «Die Natur gibt den Takt vor, und wenn wir mit der Arbeit aussetzen müssen, können wir das nicht so einfach nachholen», erklärt Hanke.
Der Betrieb ist mit rund 15 Hektar Weinanbaufläche ist nach eigenen Angaben das nördlichste Qualitätsweigut Deutschlands. Insgesamt 25 Hektar bewirtschaftet die Familie. Dazu gehören zusätzlich zum Weinbau Anbauflächen für Äpfel, Pflaumen, Süßkirschen und drei Hektar mit Erdbeeren. «Korona» heißt tatsächlich die Erdbeersorte, die der Direktvermarkter hier schon seit den 1980er anbaut. «Aber unsere Erdbeere schreibt sich mit K und hat ein sehr schönes Aroma», betont Hanke, der mit seinem Bruder Ingo die Geschicke des 1994 gegründeten heutigen Hofbetriebes mit Weinausschank leitet. Weinkenner schätzen die Tropfen aus der Region, die mit ihrer Weitläufigkeit zugleich für Naturliebhaber als ein Geheimtipp gilt. Wann Wein- und Naturliebhaber Jessen wieder bereisen dürfen, war am Donnerstag aber noch lange nicht absehbar.
Welche Aus- und Zufahrten zu den Ortsteilen Jessen und Schweinitz gesperrt sind, lest Ihr hier: