Die Fälle häuslicher Gewalt nehmen zu. Grund seien die Ausgangsbeschränkungen, um den Coronavirus einzudämmen. Prof. Anja Pannewitz von der HTWK Leipzig argumentiert: „Der Raum ist nicht die Ursache.“
Laut ersten Berichten aus Europa und China sind die Fälle häuslicher Gewalt eklatant angestiegen, vor allem gegen Frauen und Kinder. Für Frauen war das eigene Zuhause aber vor der Corona-Krise bereits der Ort, an dem sie am meisten Gewalt zu befürchten hatten. Jetzt, wo die Aktions- und Bewegungsräume der Menschen begrenzt sind, können die Ausgangsbeschränkungen wie ein Katalysator für Gewalt wirken. Außerdem vermute ich, dass sich das Gewaltpotenzial aus dem öffentlichen Raum gerade nach Hause verschiebt. Die Gewalt ist ja nicht einfach weg.
Häusliche Gewalt hat immer mehrere Ursachen. Das können zum Beispiel Macht- oder Abhängigkeitsverhältnisse in der Partnerschaft oder in der Familie sein. Oder die Familienmitglieder haben nicht gelernt, Konflikte auf sprachlicher Ebene und gewaltfrei zu lösen. Gewaltursachen können verstärkt werden, wenn Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden oder wenn die soziale Kontrolle durch andere wegfällt.
Die aktuelle Situation offenbart auch die Lage des Hilfesystems für häusliche Gewalt in Deutschland. Bereits vor der Corona-Krise fehlten etwa 14.000 Plätze in Zufluchtshäusern. Daher wird es jetzt bei steigender Nachfrage immer schwerer, die ohnehin knappen Hilfestrukturen aufrechtzuerhalten. Die Betroffenen wissen teilweise gar nicht mehr wohin, wenn zu Hause Gewalt droht. So ist für manche Kinder die Schule der einzig sichere Ort und die ist geschlossen.
Dahinter steckt die Vermutung, dass Menschen, die wenig Raum zur Verfügung haben, automatisch gewalttätiger sind. In unserer Forschung haben wir das untersucht. Aber weder wir noch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Beratungs- und Hilfestellen können das bisher bestätigen. Enger Raum ist nicht die Ursache für das Entstehen von häuslicher Gewalt. Sie ist ein Querschnittsproblem unserer Gesellschaft und ist immer mit hierarchischen Geschlechterverhältnissen verknüpft. Gewalt ist kein Armutsphänomen; auch in riesigen Vorstadthäusern oder in gut betuchten Milieus kommt es ganz regulär zu häuslicher Gewalt.
Es ist in Krisensituationen ganz normal, frustriert zu sein oder aggressive Impulse zu haben – darüber sollte sich jede und jeder im Klaren sein. Wenn man weiß, wie es einem gerade geht, überrascht einen der eigene Frust nicht erst beim Handeln. Um Angst und Panik zu lindern, empfehle ich, sich nur einmal am Tag aus seriösen Quellen über Corona zu informieren. Man muss auch mal vom Thema Abstand bekommen. Jede und jeder sollte die wenigen verbliebenen Freiräume auch nutzen. Bei Bewegung an der frischen Luft baut der Körper Stress ab. 15 Minuten Sonnenlicht täglich heben insgesamt die Stimmungslage. Und telefonischer oder digitaler Kontakt zu anderen Personen mindert das Gefühl, isoliert zu sein.
Es ist schwerer, wenn der Partner oder die Partnerin das Handy kontrolliert oder einen nicht aus den Augen lässt. Dennoch rate ich zu Krisentelefonen. So gibt es vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben ein Hilfetelefon bei Gewalt gegen Frauen; das bundesweite Opfer-Telefon des Weißen Rings steht täglich von 7 bis 22 Uhr zur Verfügung und bietet auch eine Online-Beratung und ich empfehle die deutschlandweite „Nummer gegen Kummer“ mit dem Kinder- und Jugendtelefon. Hier ist auch eine Onlineberatung per E-Mail oder Chat für Kinder, Jugendliche, Eltern und Großeltern möglich.
Anja Pannewitz ist Professorin für Sozialarbeitswissenschaften an der HTWK Leipzig. Zu ihren Forschungsinteressen gehört die Bedeutung von Raum und Gewalt im persönlichen Umfeld. So befasste sie sich beispielsweise mit der Gewalttätigkeit von Mädchen und Frauen. Aktuell erforscht sie in rekonstruktiven Fallanalysen das Wechselverhältnis von Gewalt und Raum in sozialen Nahbeziehungen.