Gedenken an die Opfer vom Attentat in Halle

Gedenken an die Opfer des Halle-Attentats

1 Jahr danach hielt die Stadt inne

Schweigeminuten, Blumen und Gedenktafeln: Am ersten Jahrestag des rechtsextremen und antisemitischen Terroranschlags von Halle hat die Stadt der Opfer gedacht. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief dazu auf, Haltung gegen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit zu zeigen. Auf dem Innenhof der angegriffenen Synagoge wurde am Freitag die zum Denkmal umgestaltete Tür enthüllt, die am 9. Oktober 2019 den Schüssen des Attentäters standgehalten hatte. In den Mittagsstunden versammelten sich Hunderte Menschen auf dem Marktplatz der Stadt und hielten mehrere Minuten lang zu Glockengeläut schweigend inne, um an die zwei Toten, die Verletzten und Traumatisierten zu erinnern.

Bei einer zentralen Gedenkveranstaltung in der Ulrichskirche sagte Steinmeier laut vorab verbreitetem Redemanuskript, er empfinde Scham und Zorn darüber, dass es nötig sei, jüdische Gotteshäuser in Deutschland zu schützen und dass die antisemitischen Gewalttaten wieder zunähmen. Er verwies zudem auf zahlreiche andere rechtsextreme Gewalttaten der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Das Grundgesetz sei eine Verpflichtung für jeden Einzelnen, sich einzumischen. «Jeder und jeder muss aufstehen, wenn die Menschenwürde anderer missachtet wird.»

Der Bundespräsident hatte zuvor die Tatorte des Anschlags von Halle besucht. An der Synagoge wurden mehrere große Kränze niedergelegt und eine Gedenkplakette enthüllt. Steinmeier, der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, Sachsen-Anhalts Regierungschef Reiner Haseloff (CDU)und Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch verharrten kurz vor den Kränzen und verbeugten sich.

Zentralrats-Präsident Schuster sagte, er sei mit gemischten Gefühlen nach Halle gereist. Die Erinnerung an den Tattag löse immer noch Schmerz aus, gleichzeitig freue es ihn, wie sehr die Gemeinde zusammenstehe und wie viele Solidaritätsbekundungen es gegeben habe. «Deutschland ist unser Zuhause», sagte Schuster bei der Enthüllung eines Denkmals im Innenhof der angegriffenen Synagoge. Halle sei das Zuhause der hiesigen Gemeinde und der Familien und Freunde der beiden Getöteten. «Und dieses Zuhause lassen wir uns nicht nehmen!»

Die Künstlerin Lidia Edel hatte aus der Tür, die vor einem Jahr den Schüssen des Attentäters standhielt, ein Denkmal gefertigt. Die Tür mit den sichtbaren Einschusslöchern wird von einer Eiche gehalten, deren Äste eine Hand darstellen. 52 silberne Blätter hinter der Tür symbolisieren die Überlebenden des Anschlags - jeweils zwei Blätter vor der Tür erinnern an die Toten und Verletzten.

Am 9. Oktober 2019 hatte ein schwer bewaffneter Täter Sprengsätze über die Mauer des Synagogengeländes geworfen und versucht, in das Gotteshaus einzudringen. Dort feierten mehr als 50 Gläubige den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Als das Eindringen misslang, erschoss er eine 40 Jahre alte Passantin, tötete beim Angriff auf einen nahe gelegenen Dönerimbiss einen 20-Jährigen und verletzte und traumatisierte zahlreiche weitere Menschen, ehe er nach rund eineinhalb Stunden gefasst wurde. Der 28 Jahre alte Deutsche Stephan Balliet hat dieTat eingeräumt, vor dem Oberlandesgericht Naumburg läuft gerade der Prozess gegenihn.

Seit den Morgenstunden wurde in Halle mit zahlreichen Veranstaltungen, Schweigeminuten und Blumen der Opfer des Anschlags gedacht. Bei den Schweigeminuten auf dem Marktplatz hielten viele Teilnehmer sich an den Händen oder hatten Tränen in den Augen. Zeitgleich läuteten die Kirchenglocken in der Stadt. Einige Teilnehmer hielten Transparente mit Aufschriften wie «Nein zu Rassismus und Antisemitismus». Die Marktkirche stand anschließend offen für Gebete.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble forderte mit Blick auf den Jahrestag einen wirksameren Schutz jüdischer Menschen in Deutschland. Schäuble wies auch auf den brutalen Angriff auf einen Studenten vor einer Synagoge in Hamburg am vergangenen Sonntag hin. Diese Tat zeige, «dass wir in unserem konsequenten Einsatz gegen gewaltbereiten Antisemitismus und beim Schutz von Bürgern jüdischen Glaubens in unserem Land schnell und deutlich noch besser werden müssen», sagte Schäuble im Bundestag.

Sachsen-Anhalts Landtagspräsidentin Brakebusch sagte, der Anschlag sei wahrlich nicht aus heiterem Himmel gekommen. «Ich empfinde Scham, dass wir dieses Attentat auf das Versöhnungsfest nicht verhindern konnten.» Der Anschlag in Halle habe «faktisch alles verändert», sagte Ministerpräsident Haseloff dem Sender MDRAktuell. Es würden Maßnahmen ergriffen, damit eine solche Tat «nie wieder» vorkomme.

Gemeinsam für Toleranz und Solidarität: #HalleZusammen

Mit #hallezusammen wollten wir ein Zeichen setzen. Ein Zeichen FÜR ein tolerantes Miteinander, Solidarität und ein friedliches, offenes Zusammenleben OHNE Angst, Hass und Missgunst. Gemeinsam mit dem MDR veranstaltete radio SAW, ROCKLAND, Radio Brocken, 89.0 RTL, die Mitteldeutsche Zeitung und die Stadt Halle ein beispielloses Event in Gedenken an die Opfer des Terrorangriffs vom 9. Oktober. Was die 15.000 Besucher erleben durften, war bewegend und ganz besonders. Stars wieMark Forster, Joris, Alice Merton, Michael Schulte und Max Giesinger und viele mehrstanden auf der Bühne und setzten sich für die wichtige Botschaft ein.

Gemeinsam für Toleranz und Solidarität: #HalleZusammen
Gemeinsam für Toleranz und Solidarität: Das #hallezusammen - Konzert

Thomas Thiele ist der Tischler der Synagogentür, die den Täter vor einem Jahr aufgehalten hat.

Thomas, ist dir eigentlich bewusst, dass deine Tür möglicherweise viele Menschenleben gerettet hat?
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  • Thomas, ist dir eigentlich bewusst, dass deine Tür möglicherweise viele Menschenleben gerettet hat?
  • Was hat die Tür an der Synagoge so stabil gemacht?
  • Und du hast auch die neue Tür für die Synagoge gebaut. Ist die jetzt nochmal sicherer?
  • Wie bleibt dir der 9. Oktober 2019 in Erinnerung?

DER PROZESS

Bislang sind 18 Verhandlungstermine für den Prozess vorgesehen. Der bislang letzte Termin soll am 14. Oktober 2020 stattfinden. Die Anklage führt die Bundesanwaltschaft. Stephan B. wird in Magdeburg der Prozess gemacht, weil am dortigen Landgericht die Sicherheitsbedingungen erfüllt werden können. Der Prozess findet in einem mit rund 400 Quadratmetern verhältnismäßig großen Verhandlungssaal statt.

Gut 40 regionale, nationale und internationale Medien haben in einem Auslosungsverfahren einen Platz im Sitzungssaal erhalten, darunter auch die «New York Times». Wegen der Corona-Pandemie gelten zudem die allgemeinen Hygieneregeln.

Video: Ankunft des Angeklagten Stephan B. im Landgericht Magdeburg

DIE TAT

Am 9. Oktober 2019 versucht ein schwerbewaffneter Mann, in die Synagoge in Halle einzudringen, in der Gläubige den höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, begehen. Als er scheitert, erschießt er in der Nähe eine 40 Jahre alte Frau und einen 20-Jährigen. Auf der Flucht verletzt der Täter ein Paar schwer, bevor er nahe Zeitz von zwei Polizisten festgenommen wird. Das Geschehen streamt er live ins Internet.

Der Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt sieht in der Tat auch einen «erschreckenden Beleg» für einen seit längerem gestiegenen Antisemitismus, «der sich sodann als Motivation für rechtsextremistische Straf- und auch Gewalttaten widerspiegelt.» Der Inlandsgeheimdienst sieht auch Parallelen zu einem rechtsextremen Anschlag im neuseeländischen Christchurch. Im März 2019 wurde dort in zwei Moscheen auf muslimische Gläubige geschossen, mehr als 50 Menschen starben.

DIE VERTEIDIGUNG

Bislang hat sich Rechtsanwalt Hans-Dieter Weber mit öffentlichen Äußerungen weitgehend zurückgehalten. Kurz nach dem Anschlag hatte er dem Südwestrundfunk (SWR) gesagt, sein Mandant Stephan B. sei intelligent, wortgewandt, aber sozial isoliert. Auslöser für die Tat sei gewesen, dass er andere Menschen für eigene Probleme verantwortlich mache. Webers Kanzlei teilte der Deutschen Presse-Agentur mit, dass sie in Absprache mit dem Mandanten vor dem Prozess keine Stellungnahme abgeben werde.

DER ANGEKLAGTE

Stephan B., geboren im Januar 1992 in der Nähe der Lutherstadt Eisleben, gilt als sogenannter einsamer Wolf. Ein Chemie-Studium brach er ab. In einem elf Seiten langen «Manifest», das er vor der Tat veröffentlichte, wimmelt es vor antisemitischen Begriffen. B. spricht etwa von einer «zionistisch besetzten Regierung» - ein klassischer judenfeindlicher Begriff aus der rechtsextremen Szene.

Noch bevor die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, hatte er eine Grundausbildung bei der Bundeswehr absolviert und wurde laut Verteidigungsministerium auch an der Waffe ausgebildet.

«In seinem Weltbild ist es halt so, dass er andere verantwortlich macht für seine eigene Misere, und das ist letztendlich der Auslöser für dieses Handeln», erklärte sein Verteidiger kurz nach der Tat. Er sehe Kräfte am Werk, die im Verborgenen wirkten, aber sehr einflussreich seien und auf die Politik einwirken könnten, so Weber.

Bei den Sicherheitsbehörden war er zuvor nicht in Erscheinung getreten, wie der Verfassungsschutz mitteilte. Die von ihm veröffentlichten Schriften und das live übertragene Video belegten eine antisemitische und fremdenfeindliche Grundeinstellung. Diese stehe augenscheinlich im Zusammenhang mit einer frauenfeindlichen Haltung, die zur Radikalisierung des Angeklagten führte. Diese habe in «einschlägigen Internetforen» stattgefunden. Für Kontakt zu Rechtsextremisten in der analogen Welt hat der Verfassungsschutz eigenen Angaben zufolge keine Belege gefunden.

DIE NEBENKLÄGER

43 Nebenkläger sind laut Gericht zugelassen worden. Viele von ihnen sind bislang nicht an die Öffentlichkeit getreten. Grundsätzlich können sich Menschen einer Nebenklage anschließen, die unter anderem von einer Tat «gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit» betroffen sind, wie das Gericht mitteilte. Weitere Details zu den Nebenklägern nannte das Gericht nicht. Neben Vertretern der Jüdischen Gemeinde Halle wie dem Vorsitzenden Max Privorozki, hat auch der Amerikaner Ezra Waxman vor dem Prozess mit Journalisten geredet.

Im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur sagte der 32-Jährige: «Ich bin ein bisschen nervös.» Vor der Verhandlung hatte der Forscher der TU Dresden in Österreich Kraft getankt – die Ruhe vor dem Sturm, wie er sagt. Gemeinsam mit Freundinnen und Freunden habe er 2019 an Jom Kippur kleinere und ältere jüdische Gemeinden beleben wollen und sei deswegen nach Halle gekommen.

«Ich weiß nicht genau, was ich von dem Prozess erwarten soll», sagt er. Natürlich hoffe er, dass Stephan B. so lange hinter Gitter komme, wie er eine Gefahr für die Gesellschaft sei. Zudem wolle er mehr über ihn erfahren, verstehen wie er denkt und was ihn antreibt, weil er sich dann sicherer fühle. «Ich kenne niemanden wie ihn, deswegen würde ich gerne verstehen, wie er Hass auf Menschen entwickeln konnte, die er nicht mal kennt.»

Auch der Taxifahrer Daniel Waclawczyk gehört zu den Nebenklägern. Am 9. Oktober war sein Wagen ihm zufolge in einer Werkstatt - die Reifen sollten gewechselt werden - als das Taxi mit Waffengewalt geraubt wurde, um die Flucht fortzusetzen. Zum Prozess sagte er: «Der Täter soll seine gerechte Strafe bekommen. Zudem hoffe ich, dass ich die wirtschaftlichen Schäden ersetzt bekomme.» Er beziffert den Schaden mit rund 12 000 bis 14 000 Euro auch wegen Umsatzverlusten. Erst am 9. Dezember sei das gestohlene Taxi wieder einsatzbereit gewesen.

Die Doktorandin der Philosophie Christina Feist sagte vor dem Prozess der Zeitung «taz», sie wolle wissen, ob sich der Attentäter wirklich unbemerkt radikalisiert habe. Zudem habe sie noch einen Rest Hoffnung, dass der Prozess Menschen aufrütteln werde. Sie war bei dem Anschlag ebenfalls in der Synagoge.

Am Donnerstag, 16. Juli 2020 wurde zudem ein Betreiber des vom Anschlag betroffenen Döner-Imbisses als Nebenkläger zugelassen. Das bestätigte ein Gerichtssprecher der Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage. In dem Geschäft war der 20-Jährige erschossen worden. Zuvor hatte die «Mitteldeutsche Zeitung» darüber berichtet.

DIE VORSITZENDE RICHTERIN

Ursula Mertens ist in Sachsen-Anhalt seit vielen Jahren tätig, am Oberlandesgericht Naumburg (OLG) und am Landgericht Halle. Sie leitete bisher eine Vielzahl an Prozessen - unter anderem gegen den selbst ernannten «König von Deutschland» aus Wittenberg, Peter Fitzek. Der Verfassungsschutz rechnete den gelernten Koch der Reichsbürgerszene zu, was er vehement bestritt.

Doch wie erkläre ich einen furchtbaren Vorfall wie diesen in Halle am besten meinen Kindern?

Wir haben mit Manuela Elz, Kinderpsychiaterin und Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Krankenhauses „St. Elisabeth St. Barbara in Halle“, telefoniert und sie gefragt.

Hier geht es zum Interview

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