Nach jahrelangem Streit haben die USA und Deutschland einen Durchbruch im Konflikt um die deutsch-russische Pipeline Nord Stream 2 erzielt. Die Top-Diplomatin Victoria Nuland aus dem US-Außenministerium verkündete am Mittwoch bei einer Anhörung im Kongress, dass eine Einigung erzielt worden sei. In Berlin wurde der Durchbruch bestätigt. Dieser soll auch helfen, den angestrebten Neustart in den deutsch-amerikanischen Beziehungen nach den schwierigen Jahren unter dem früheren US-Präsidenten Donald Trump zu erleichtern.
Die beinahe fertiggestellte Ostsee-Pipeline soll russisches Gas nach Deutschland bringen - unter Umgehung der Ukraine, die auf die Einnahmen aus dem Gas-Transit angewiesen ist. Die USA hatten Nord Stream 2 jahrelang massiv kritisiert, wollen nun aber auf weitere Sanktionen verzichten.
Nuland sagte, Deutschland habe sich in der Einigung unter anderem zu Maßnahmen verpflichtet, «sollte Russland versuchen, Energie als Waffe einzusetzen oder weitere aggressive Handlungen gegen die Ukraine zu begehen». Das schließe mögliche Sanktionen ein. Vereinbart sei außerdem Unterstützung für eine Verlängerung des 2024 auslaufenden Gas-Transitabkommens durch die Ukraine um weitere zehn Jahre. Man werde außerdem daran arbeiten, die Abhängigkeit der Ukraine vom russischen Gas und den Transit-Einnahmen zu verringern.
In Berlin hieß es zur Einordnung, die USA würden nun keine weiteren Sanktionen gegen Nord Stream 2 verhängen. Für den Fall, dass Russland Energie als «politische Waffe» einsetze, habe sich Deutschland verpflichtet, nationale Maßnahmen zu ergreifen und auf EU-Ebene darauf hinzuwirken, dass es zu Sanktionen komme - im Energiebereich oder anderen wirtschaftlich relevanten Feldern.
Ferner hätten sich Deutschland und die USA darauf verständigt, einen «grünen Fonds Ukraine» einzurichten mit einer Anschubfinanzierung von 150 Millionen Euro aus Deutschland. Ziel sei es, eine Hebelwirkung mit der Beteiligung privater Investoren in Höhe von dann insgesamt einer Milliarde US-Dollar zu erzielen. Dabei gehe es auch um Wasserstoffprojekte, Energieeffizienz und erneuerbare Energie. Die Ukraine wolle unabhängiger von russischem Gas werden. Deutschland habe technische Unterstützung zugesagt beim Anschluss des ukrainischen Stromnetzes an das europäische Stromnetz.
Nuland betonte, die Regierung von US-Präsident Joe Biden sei weiterhin der Überzeugung, dass Nord Stream 2 «ein schlechter Deal» sei, der die Abhängigkeit Europas von russischer Energie verstärke. «Das ist eine schlechte Situation und eine schlechte Pipeline, aber wir müssen helfen, die Ukraine zu schützen, und ich habe das Gefühl, dass wir mit dieser Vereinbarung einige wichtige Schritte in diese Richtung gemacht haben.»
Aus der Ukraine kam allerdings Kritik. Aus dem Büro von Präsident Wolodymyr Selenskyj hieß es am Mittwoch: «Die Entscheidung zu Nord Stream 2 kann nicht hinter dem Rücken all derer getroffen werden, die das Projekt real bedroht.» Das könne nur bei einem persönlichen Treffen Selenskyjs mit US-Präsident Joe Biden geklärt werden. Das Weiße Haus teilte mit, ein Treffen Bidens mit Selenskyj sei für Ende August geplant.
Lob kam aus Moskau: «Diese Vereinbarung gibt uns die Möglichkeit, den Bau von Nord Stream 2 in Ruhe abzuschließen und den Betrieb vollständig aufzunehmen», sagte Wladimir Dschabarow vom Föderationsrat - das Oberhaus des russischen Parlaments - der Agentur Interfax. Zugleich stellte er Bedingungen für eine mögliche Verlängerung des Transitvertrags durch die Ukraine: Die Ukraine sollte sich als «konstruktiver Partner» unter Beweis stellen. Bei «normalen Bedingungen» werde niemand Druck ausüben auf die Ukraine.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) telefonierte am Mittwoch nach Regierungsangaben mit dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin - Thema dabei war auch Nord Stream 2. Merkel dürfte Putin den Durchbruch im Streit mit den USA erläutert haben.
Wie die Betreiberfirma Mitte Juli erläutert hatte, soll die Ostseepipeline in einigen Wochen fertiggestellt sein. «Wir gehen davon aus, dass die Bauarbeiten Ende August beendet sind», hatte der Vorstandschef der Nord Stream 2 AG, Matthias Warnig, dem «Handelsblatt» gesagt. Mittlerweile seien 98 Prozent der Pipeline fertiggestellt. Ziel sei es, die Erdgas-Pipeline noch in diesem Jahr in Betrieb zu nehmen.
Die deutsche Wirtschaft in Russland lobte die Einigung zwischen den USA und Deutschland. «Es ist ein gutes Zeichen, dass Washington und Berlin ihren Streit (...) beigelegt haben und die für Europa äußerst wichtige Gasverbindung fertiggestellt werden kann», sagte der Präsident der deutsch-russischen Auslandshandelskammer (AHK), Rainer Seele. «Gerade in schwierigen Zeiten ist es wichtig, dass es solche Leuchtturmprojekte zwischen Russland und Europa gibt.»
Biden und Merkel hatten am vergangenen Donnerstag in Washington einen Neustart in den deutsch-amerikanischen Beziehungen beschworen, nach schwierigen Jahren unter Bidens Vorgänger Trump. Biden sagte dabei, er habe Merkel gegenüber nochmals seine Bedenken bezüglich der Pipeline ausgedrückt. Russland dürfe diese nicht nutzen, um «die Ukraine auf irgendeine Weise zu erpressen».
Merkel sagte nach dem Treffen, Nord Stream 2 sei ein zusätzliches Projekt und keine Alternative zum Gastransit durch die Ukraine: «Unser Verständnis war und ist und bleibt, dass die Ukraine Transitland für Erdgas bleibt.» Merkel machte deutlich, man werde «auch aktiv handeln», falls Russland das Recht der Ukraine auf Gastransit nicht einlösen werde.
In den USA gibt es seit Jahren parteiübergreifend Widerstand gegen Nord Stream 2. Die Einigung dürfte im Kongress daher auf starken Widerstand stoßen. Dort lehnen viele Republikaner das Projekt ab und fordern Sanktionen, genauso wie einige von Bidens Demokraten. Kritiker sehen in der Pipeline ein geopolitisches Projekt Russlands, das die Energiesicherheit Europas gefährde. Sie bemängeln außerdem, dass die Pipeline der Ukraine schaden könnte. Kiew ist auf Milliardeneinnahmen aus dem russischen Gastransit angewiesen. Befürworter der Pipeline wiederum werfen den USA vor, nur ihr eigenes, teureres Gas in Europa absetzen zu wollen.