Ein seltenes Handwerk: Seiler

radio SAW zu Besuch bei der Seilerei Voigt in Bad Düben

Netze knoten, Stricke drehen - das klingt mühsam und eintönig. Doch Holger Voigt, Chef der gleichnamigenSeilereiin Bad Düben bei Leipzig, kann fesselnde Anekdoten erzählen. Seine Produkte kommen nicht nur in Zügen, Autos und in der Raumfahrt zum Einsatz. Künstler, Filmemacher, Kulissenbauer, Zirkusse und die Rüstungsindustrie geben Bestellungen bei ihm auf. »Auch die Erotikbranche ist ein Kunde», sagt Seilermeister Voigt.

Dass es einmal soweit kommen würde, konnte sein Ur-Großvater Gustav Voigt kaum ahnen. Er hat den Familienbetrieb 1898 gegründet. Zu seinen Kunden zählten Bauern und Handwerker in der näheren Umgebung. Er fertigte Wurstbindfäden, Ackerleinen, Heuseile, Peitschenschnüre, Abdecknetze für Viehwagen, Zugstränge für Kutschen und Geburtshelfer für Pferde oder Rinder - alles in Handarbeit.

Heute, 125 Jahre später, stehen Maschinen und Computer in den Werkhallen derSeilereiVoigt. Etwa 90 Männer und Frauen gehören zum Unternehmen. Und noch immer wird viel mit der Hand gearbeitet. «Bestimmte Sachen werden bleiben», sagt der Chef. Seine Mitarbeiter stellen beispielsweise Netze mit Stricknadel und Strickbrett her. In denSchubladen einer Werkhalle liegen sogenannte Spleißhörner, Werkzeuge aus Tierhorn, die laut Voigt mindestens 100 Jahre alt sind. Auf der anderen Seite der Halle rotieren Flechtmaschinen - Tradition und Moderne in einem Raum.

Für all das hat sich Holger Voigt überhaupt nicht interessiert, als er ein Kind war. Eine Zukunft als Lokführer oder Soldat erschien ihm aufregender. Erst als sein Vater starb, versprach Holger Voigt, dass er die Firma übernehmen würde. Später lernte er bei einer befreundetenSeilereiin Bad Schmiedeberg, besuchte Lehrgänge, vertiefte sich immer mehr in das Handwerk. Und dann meldete sich die Defa erstmals in Bad Düben. Das DDR-Filmunternehmen brauchte ein Netz für einen Märchenfilm. «Da fing das langsam an, interessant zu werden», erzählt Voigt.

Bis heute erreichen dieSeilereiviele Einzelaufträge, oft aus dem Ausland, nur selten wird in großer Stückzahl produziert. Die Produktliste ist lang, daher kann Voigt lediglich Auszüge nennen, wie etwa die Netze für den Leipziger Zoo. Oder die Bowdenzüge für renommierte, deutsche Autohersteller. Die Drahtseile an der Spitze des Berliner Fernsehturms. Die Leitungsrohr-Sicherungen für ein Wasserkraftwerk am Mississippi. Die Netze für den Kinderfilm «Wickie auf großer Fahrt» und die Seile für eine Schaukel in der RTL-Serie «Deutschland sucht den Superstar».

Holger Voigt muss lachen, wenn er von den Anfragen aus der Erotikbranche und der Sado-Maso-Szene berichtet. Mitunter reisten die Kunden extra aus der Schweiz an, um spezielle Seile für Fesselspiele in Auftrag zu geben.

Das breite Angebot scheint sich auszuzahlen. Laut Voigt läuft das Geschäft gut. «Wir können uns nicht beschweren», sagt er. DieSeilereigehört zu den letzten im Raum Leipzig. Nach Angaben der Handwerkskammer gab es 1990 noch acht eingetragene Seiler im Bezirk, heute sind es zwei, neben Voigt nennt die Kammer einen Seiler mit Sitz in Böhlen. Zu den Gründen für diese Entwicklung kann die Kammer nur wenig Auskunft geben: «Der Beruf entwickelt sich entsprechend des Bedarfs am Markt», hieß es auf Anfrage der dpa.

Voigt sagt, dass die DDR im Textilbereich ein Billiglohn-Land gewesen sei. «Der Spieß hat sich ein bisschen umgedreht.» Nach der Wende hätten die Importe aus Asien und Osteuropa zugenommen. «Früher hatte man die Wäscheleine beim Seiler gekauft. Dann gab es Super- und Baumärkte.» Wegen der niedrigen Preise hätten viele Produzenten in Deutschland nicht mehr mithalten können. Die Qualität der Ware aus dem Ausland sei heute aber nicht unbedingt schlechter, meint Voigt.

Dennoch drängt er darauf, dass wieder mehr Wert auf Nachhaltigkeit und Regionalität gelegt wird - auch im Sinne der Umweltbilanz, die unter globalen Lieferketten leide. Mit zwei geplanten Windrädern auf dem Firmengelände will Voigt einen ökologischen Beitrag leisten. Auch die Photovoltaik-Anlage auf dem Dach möchte er vergrößern. Bis zu 80 Prozent des Energiebedarfs der Firma sollen in Zukunft autark erzeugt werden, sagt Voigt.

Der Chef sieht seinen Betrieb als einen Ort, der langfristig nur durch Innovation überleben kann. So bereiten sich seine Mitarbeiter zum Beispiel auf die Wasserstoff-Technologie vor, indem sie mit neuen Materialien experimentieren.

An der Zukunft des Unternehmens soll auch der 28-jährige Sohn des Chefs, Konrad, bald mitwirken. Ab März werde er im Unternehmen einsteigen, sagt Holger Voigt. Dem Sohn sei es mit derSeilereiähnlich gegangen wie einst dem Vater. «Am Anfang war er etwas distanziert. Jetzt ist er Feuer und Flamme.»

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